Margot Michaelis: Wolfgang Spittlers Lebenswerk (Seite 4)
Holzschnitte
Während des Studiums wendet sich Wolfgang Spittler der Technik und Kunst des Holzschnitts zu, und er vervollkommnet sich in dieser Technik bis heute, indem er immer wieder mit verschiedenen Verfahren experimentiert. Viele Farbvarianten eines Druckes geben demselben Motiv einen unterschiedlichen Ausdruck. Es fasziniert ihn insbesondere der Druck „von der verlorenen Platte“, ein Druckverfahren, bei dem die verschiedenen Formen eines mehrfarbigen Druckes in einzelnen Schritten aus nur einer einzigen Platte herausgearbeitet werden. Versuche, die Druckfolge zu verändern und in unüblicher Weise von Schwarz nach Hell zu drucken, lassen eine sichtbarere Überlagerung der Farben entstehen und ziehen den Farbklang in einem zurückgenommenen Leuchten zusammen.
Anfang der 50er Jahre entstehen Köpfe und Landschaften noch in enger Verwandtschaft zum Expressionismus der Brücke, vor allem in produktiver Auseinandersetzung mit Ludwig Kirchner, dessen Werk Wolfgang Spitteler sehr verbunden fühlt. Wie roh geschnitzt stehen große Flächen Schwarz und Weiß gegeneinander. Werkzeugspuren bleiben stehen. Mit ihren kantigen Konturen, den abstrakten Binnenstrukturen sind diese frühen Blätter Grafiken von großer Ausdruckskraft. Das Ausdruckshafte, das aus der expressiv gesteigerten Form spricht, liegt dem jungen Künstler. Gleichwohl zeichnen sich die Arbeiten durch kompositorische Strenge und Raffinesse in der Flächengliederung aus. Es herrscht bei aller Dynamik der Form Ausgewogenheit und Klarheit.
In den 70erjahren finden sich viele Motive aus dem Familienleben, das nun vielleicht das neue Zentrum im Leben Wolfgang Spittlers bildet: Der Knabe im Baum, der Drachenflieger, die Mutter mit dem Kind an der Hand. Die Strandburgserie (1972) zeigt die Familie im Kampf mit den Elementen Wind, Wasser, Erde, Luft. Eine rasante Komposition, die die Bilder in wildem Rhythmus verknüpft. Schwungvoll und frisch wird das alltägliche Drama des Familienlebens, das auch an den Kräften zehren kann, in Szene gesetzt. Realität und metaphorischer Reichtum überlagern sich in diesen Bildern und geben ihnen bei einem deutlich biografischen Bezug eine allgemeine Bedeutung.
Die herrliche Sequenz aus vier großformatigen Schnitten, die einen Fahrradausflug zum Thema hat, erinnert in ihrer Idee, wenn auch in ganz anderer Form, an das Gemälde „Die Rast“ ("Die Rast: Huldigung an David" 1944-49, Paris, Musée d'Art Moderne) von Fernand Leger. Leger bringt die Familie in Verbindung mit dem Fahrrad als einer idealen Maschine, die jeder beherrschen kann, in den Kontext einer Vorstellung vom irdischen Glück. In Wolfgang Spittlers Holzschnittsequenz einer Fahrradrast wird jeder einzelne in einem eigenen Raum dargeboten, der Vater noch mit dem Kleinsten im Kindersitz, während das Fahrrad als gelungene grafische Struktur, ebenso wie die umgebende, nur angedeutet Landschaft die Verbindung zwischen ihnen schafft. Wir erleben die junge Familie gemeinsam und doch jedes Mitglied auf seine eigene Art.
Im Werk „Zwei Violinistinnen“ von 1976 experimentiert Wolfgang Spittler mit Farbflächen, mit denen er den Schwarz-Weiß-Druck erweitert und ihm eine stärkere Stimmungslage unterlegt. Die Farbflächen erscheinen fast frei gegenüber der Form, sie durchstoßen die Figuren, die den Raum des Bildes ganz einnehmen. Die Violinistinnen bilden als dominante schwarze Fläche ein energetisches Zentrum, aus dem heraus die Musik geschaffen zu werden scheint, geformt von der dynamischen Geste des Bogenstreichens.
1999 nimmt der Künstler das Motiv des Drachenfliegers in einem dreifarbigen Schnitt „von der verlorenen Platte“ wieder auf. Das Aufspannen des riesigen Drachens wird hier zur Verstrickung. Fast verzweifelt versucht der Mensch sich aus dem flügelhaften Gebilde, das ihn wie ein durchbrochener Kokon umgibt, zu befreien. Es ist eben nicht leicht, sich Flügel zu geben. Das Ikarusmotiv scheint durch. In der Arbeit mit verlorener Platte erkennen wir die Experimentierfreude des Künstlers, die ihn ja durchaus in die Nähe des Ikarus bringt.
Auch die sehr komplexen mehrfarbigen Landschaftsdrucke der 90er Jahre zeugen von dieser experimentellen Haltung, ohne allerdings jemals von der Disziplin einer gekonnten Komposition abzuweichen.
Um 2005 dann diese heiteren, leichten Frauenporträts und -figuren, stark abstrahiert, oft in mehreren Farbvarianten gedruckt. Die Palette scheint nunmehr gelichtet. Das Schwarz tritt gegenüber leuchtenden Pastelltönen, dem Türkis, Violett, Lichtgrau und Senfgelb zurück. Die Farbe löst sich gleichsam wie eine zweite Stimme von der Form. Alle Souveränität, die der Künstler erreicht hat, liegt in diesen sensiblen und lichten Motiven eines beschwingt und geläutert wirkenden Spätwerks.