Margot Michaelis: Wolfgang Spittlers Lebenswerk (Seite 5)


Passion I-IV (2008)

Passion

Sich in der Gegenwart mit christlichen Themen und Motiven bildkünstlerisch zu befassen ist eine schwierige Sache. Voller Zweifel wird die jahrhundertealte Religion heute wahrgenommen, während zugleich die gesamte Geschichte der Kunst ihr mit großartigen Bildern aus je anderem Zeitgeist huldigt, wobei die bedeutenden Werke nie in der Haltung des Huldigens verharrten, sondern immer ein Stück der Gegenwart mit ihren eigenen Dramen hineinleuchtet. Die Geschichte der christlichen Kunst ist in unserem imaginären Gedächtnis aufbewahrt und wird bei diesem Thema mitgedacht.

2008 entstehen großformatige Werke zur Passion Christi. Es sind Malereien und in Variation davon Holzschnitte, in denen es Wolfgang Spittler gelingt, das Thema der Passion seiner eigenen Sprache und Intention anzuverwandeln und eigenständig zu interpretieren. Viel Lebenserfahrung und künstlerisches Wissen ist eingeflossen in diese Werke. Das beginnt schon bei der Auswahl der Motive, in denen Bezüge zu verschiedenen Evangelien in Textbändern angegeben sind. Flucht der Gefährten, der Jünger Jesu, doppelter Verrat durch Judas und Petrus, Pilatus, der sich heraushält, dann die Kriegsknechte, die sich die Beute teilen und schließlich die Beweinung. Die zwei letzten Bilder zeigen die Engel am Grabe und Christus als Gärtner, das „rühre mich nicht an“ sprechend, womit das Auferstehungsthema als Hoffnungsmotiv den Abschluss bildet.

Passion V-VIII (2008)

In den durch das Hochformat bereits spannungsgeladenen Bildern fällt die verdichtete Energie auf, die von ihnen ausgeht. Die Figuren stemmen sich geradezu gegen den Rand, werden gegen den Rand gedrückt, fallen vom Rand her ein oder schwingen in den letzten beiden Motiven in gemäßigtem Abstand zu ihm. Es sind radikale Kompositionen, die die Motive in ihrer existenziellen Bedeutung unterstreichen. Die fliehenden Jünger müssen nach links aus dem Bild herausdrängend alle Kraft aufbringen. Der Judaskuss erscheint wie ein Kampf zwischen Freunden, in Abwehr und Annäherung zugleich. Dann die Kriegsknechte, mit ihren enormen Armen und Händen sieht man sie am purpurnen Mantel zerren. Wie ein Stakkato greifen Hände und Fäuste in einem ewigen Kreislauf brutal  ins Zentrum des Bildes, wo der in grellem Magenta leuchtende Stoff liegt wie ein offene Wunde. Die Gesichter sind von Gewaltlust verzerrt. Und dann die Beweinung, eher ein Sturz des toten Christus, der den Armen der in dunklen Stoff gehüllten Mutter entgleitet. Es ist die Gewalt, die um Christus herum waltet, die hier zum Thema wurde, die roh, kriegerisch, taktisch oder als Freundesverrat daherkommt. Die Engel am Grabe, sind wie zwei Frauen, die aus den anderen Bildern von Wolfgang Spittler in diese Geschichte geraten sind. Ihr engelhaftes Sein wird durch Transparenz und das Durchwirken der Linien und Farbtöne erreicht, sodass sie als Lichterscheinungen erkennbar sind. Bildeinnehmend und doch in weichem Schwung steht der Gärtnerchristus, bezeugend , dass das Leben weiter gehen wird.

Die großen kompositorisch wirkenden Linien, die die Formen beschreiben, sind es, die jedes Bild fast monumental erscheinen lassen. Es sind Linien, die Dynamik erzeugen oder leise Harmonie, ein Gegeneinander oder ein sich Abwenden formulieren, wie bei der Verleugnung Petri. Im Detail ist es oft die Sprache der Hände, auch der Füße, die das Wesen des Inhalts unterstreicht. Gewalt und Grobheit ebenso wie zarte Berührung oder feines Argumentieren. Es werden menschliche Züge und gesellschaftliche Erfahrungen gezeigt, die von Gewalt und Liebe herkommen und die heute noch auffindbar sind. Das zeigt Wolfgang Spittler, indem er die  bekannten Geschichten in eine neue, gegenwärtige Form bringt, ohne den ursprünglichen Text zu verraten. Hier geht es um Interpretation und darum, welche Fragen heute noch gestellt werden müssen.

Die Kriegsknechte (2010)
Engel am Grabe (2010)
König Ubu (1998)

Puppenspiel

Mit einer bereits toten Mähre zieht König Ubu in den Krieg. Das Foto aus der Inszenierung von König Ubu (nach Alfred Jarry, 1873–1907) von 1998 zeigt, wie das Puppenspiel das Groteske, das in Jarrys Stück liegt, aufgreift. Ein Stück, dessen Ursprungsform für Marionetten geschaffen wurde, und das mit skurrilem und anarchistischem Humor viel Platz für Spielfreude bietet. Doch die von Wolfgang Spittler mit Jugendlichen und Erwachsenen inszenierten Puppentheaterstücke waren und sind nicht bloße Spielfreude. Mit hoher Konzentration und Verdichtung entwickelt er die Stücke für und mit den Darstellern.

Seine Puppenfiguren sind formal sehr reduziert und abstrahiert,  ohne das Narrative zu verlieren. Sie wirken durch symbolkräftiges Material und physiognomische Klarheit, die den jeweiligen Grundcharakter trägt. Es sind Stockpuppen, die manchmal auch von mehreren Personen geführt werden müssen. Es wird auf komplizierte plastische Hände verzichtet, insgesamt wird eher geometrisch vereinfacht. Röhren für die Beine, drapierte Stoffe mit markanter Farbsymbolik. Während bei Ubu die Figuren das Groteske und Burleske verkörpern, so ist der Kontrabassspieler (2005/2010) seinem Typ entsprechend ganz zurückhaltend gestaltet und mit Requisiten, etwa dem überdimensionalen Schal und natürlich dem wunderbar gefertigten Kontrabass, ausgestattet, sodass er im Spiel viele Aktionsmöglichkeiten bekommt. Das Naive und doch auch Arrogante der Figur wird in der Gestaltung der Mimik und dem Kopf aber auch den Feinheiten der Kleidung ausgebildet.  Kaum glaublich, wie es gelingt, dem Puppenspiel mit lediglich einem Darsteller, der ja eine Figur ohne mimische Bewegung ist, eine solche Vielfalt an Ausdrucksmöglichkeiten abzugewinnen. Seit es die Schulpuppenbühne nicht mehr gibt, arbeitet Wolfgang Spittler für seine Inszenierungen mit Menschen aus seinem Umfeld. Für den Kontrabass hat er die herrliche Stimme von Marianna Zumstein eingesetzt, die den Kontrabassisten mit schweizer Akzent spricht.

Weitere Stücke, die Wolfgang Spittler noch in der Schule aufführte, waren "Die Entführung aus dem Serail" von Mozart und Orffs "Die Kluge".

Der Kontrabass (2005)
Karoline (2009)

Vom Puppenbau ist der Weg zur figurativen Plastik nicht weit. Dennoch hat Wolfgang Spittler erst vor einiger Zeit begonnen, aus dem im Puppenbau verwendeten Material Pappmaché auch eine Plastik zu formen. Sie transformiert die Charakteristik seiner Zeichnung und Malerei ins Plastische und ist eine Verwandte der druckgrafischen Köpfe mit der schmalen zarten Physiognomie. Fein wie sich der abgerundete Schwung der Haare wie in einem Echo im Körper wiederfindet und zierlich in der Handgeste aufgenommen wird.  Eine Geste voller Anmut und Zurückhaltung bei einem Blick, der von großer Sehnsucht erfüllt ist.

Wolfgang Spittler als Kunsterzieher

Im Lebenslauf von Wolfgang Spittler beginnt die Zeit der freien künstlerischen Arbeit erst nach der Zeit als Lehrer im Jahr 1990. Für ihn ist die Tätigkeit am Gymnasium in Salzgitter-Bad eine wichtige Aufgabe gewesen, viele Schülergenerationen hat er durch das Abitur geführt. Er gehört noch zu der Kunstlehrergeneration, für die das Künstlerische deutlich im Zentrum stand, wenn man an einer Akademie das höhere Lehramt studierte. Diese Lehrergeneration zeichnete sich vor allem durch starke handwerklich-gestalterische Kompetenz aus, die sich in eigener Arbeit aber ebenso in der Vermittlung eines breiten technischen und gestalterischen Spektrums auszeichnete. Doch begann mit Gunter Otto bereits das curriculare Denken eine stärkere Rolle zu spielen. Wolfgang Spittler hat das aufgenommen, und er war überzeugt, dass es im Kunstunterricht um Lernprozesse geht, in denen den Schülern auf transparente Weise und in Lernschritten das künstlerische Sehen, Denken und Machen vermittelt wird. Lernen, wie man künstlerisch-handwerkliche und gestalterische Probleme löst, Einblicke in wichtige Positionen der Kunstgeschichte zu bekommen, was mit dem  Begreifen von Bildern zu tun hat, nicht dem Erlernen von Stilbegriffen, darum ging es ihm. Dazu gehörte es auch, die Sammlung in der Schule zu vervollkommnen, Schülerarbeiten zu archvieren oder mit Kollegen gemeinsam zu arbeiten. Diese Vorstellung wird auch auf seinem Abschiedstriptychon mit dem etwas wehmütigen Rückblick auf seine Schulzeit sichtbar.

Ein wichtiger Haltepunkt war die Puppenbühne, die es, als Arbeitsgemeinschaft geführt, dem Lehrer ermöglichte, eigene künstlerische Vorstellungen gemeinsam mit Schülern zu realisieren, dabei zugleich das spielerische Element des Faches einzubinden.

Zum Schluss

Ein eindrucksvolles Lebenswerk hat sich ganz unprätentiös bald im Schatten, bald im Licht einer pädagogischen  Tätigkeit  und  eines  familiären  Alltags herausgebildet, im kritischen Dialog mit sich selbst und mit der Welt. Wolfgang Spittler hat  seine  Orientierung  in  den  Jahren  des  Studiums  gefunden,  um  dann  im  weiteren  darauf  aufbauend eine authentische künstlerische Sprache zu entwickeln. Über die vielen Jahre ist eine bemerkenswerte künstlerische Beständigkeit und Kraft erkennbar, die gerade in den letzten Jahren seit dem Abschied vom Lehrerberuf in einem heiteren und lichten Alterswerk neu erstarkt. In  vielen  Gattungen  und  künstlerischen  Techniken hat Wolfgang Spittler sich erprobt, vor allem anderen hat er  sich jedoch dem Menschenbild zugewandt,  oft  den  Menschen  seiner  Umgebung, aber auch den Fragen des menschlichen Lebens  in  komplexen  Bildfindungen  und  in seinen  Puppentheaterstücken.  Diesen  Arbeiten  ist  eine größere Öffentlichkeit sehr zu wünschen.

Margot Michaelis ist Kunstvermittlerin, Dozentin und Autorin.